Gedenken zum 9. November 1938

Vereint unter Kruzifix und Menora haben wir heute in Jugenheim des Jahrestages der Reichspogromnacht am 9. November 1938 gedacht. Für die Gemeinde Seeheim-Jugenheim durfte unsere Vorsitzende und Beisitzerin im Gemeindevorstand Kirsten Willenbücher die Gedenkstunde eröffnen: „Nach der Nacht vom 9. auf 10. November 1938 stand meine Mutter — 11 Jahre alt — mit ihrer Mutter in Wiesbaden-Biebrich vor einem Geschäft, dessen Scheiben eingeschlagen und dessen Fassade mit Davidsternen und Hakenkreuzen beschmiert waren. Dann zerrten schreiende Männer den Besitzer des Ladens heraus, schlugen und beschimpften ihn. Das war der Großonkel meiner Mutter. ‚Warum machen die das?‘ fragte meine Mutter verängstigt. Sie bekam darauf niemals eine Antwort. Auch den Großonkel sah sie nie wieder. Ein Familienschicksal. Millionenfach. Heute — 85 Jahre später — leben in Deutschland (auf dem Boden, von dem die Schoa ausging) wieder Juden in Sorge und Angst vor offen erstarkendem Antisemitismus und Judenhass. Wir stehen heute hier, um uns zu erinnern an Freunde und Mitbürger, die in jenen Jahren damals, die auf den 9. November folgten, Opfer dieses teuflischen Wahnsinns wurden. Und wir stehen hier aufrecht zusammen, um als Gemeinde Widerstand zu leisten und klar zu zeigen: Auf jenes ‚Warum‘, auf das es damals keine Antwort geben konnte, gibt es heute eine Antwort. Eine Antwort und ein Bekenntnis gleichermaßen, ein Bekenntnis, für das Sie alle heute hierher gekommen sind: Hier in Seeheim-Jugenheim gibt es keinen Platz für Antisemitismus und Judenhass. Im Namen der Gemeinde Seeheim-Jugenheim danke ich den Vertreterinnen und Vertretern unserer örtlichen Kirchen. Für die musikalische Umrahmung dieser Gedenkstunde danke ich Birgit Dette, Kirsten und Christoph Sames, Franziska Siebel und Stefan Lerch. Und ich danke Ihnen allen, die Sie hierher gekommen sind, für das gemeinsame Aufstehen. Denn gerade auch solches Aufstehen macht jüdisches Leben sichtbar und hörbar: nicht versteckt und bewacht hinter verschlossenen Türen, sondern als selbstverständlicher, freier Teil unserer Gesellschaft. Jüdisches Leben, das ein Geschenk für unser Land ist. Nie wieder ist jetzt!“